Überbelichtung / Ludwig Seyfarth

Überbelichtung

DD Handons Bildbefragungen

DD Handon selbst nennt ihre Kunst eine „Bildbefragung“. Damit benutzt sie einen Begriff, den wir seit Jahrzehnten jeden Monat in der Zeitschrift ART finden, als Überschrift einer Rubrik, in dem jeweils ein bedeutendes Kunstwerk auch Laien verständlich nähergebracht wird. Anders als ein solches pädagogisches Unterfangen beruhen DD Handons Bildbefragungen nicht auf der verbalen Erläuterung, sondern finden im Medium des Bildes selbst statt, das vergrößert, gerastert, übermalt, ausgedruckt oder in noch anderer Weise bearbeitet und verändert wird. DD Handons Befragung erfolgt nicht vor dem Bild, sondern nistet sich gleichsam im Bild selbst ein. Die nur undeutlich und ausschnitthaft erscheinenden Motive ihrer Serie „Flashbulb Memories“ erinnern an die wie bei einer schnellen Fahrt an uns vorüberziehenden Bilder. Tatsächlich sind die Fotografien, die als Ausgangspunkt dienten, teilweise bei Gegenlicht aus einem fahrenden Auto heraus gemacht worden oder von einem Turm in Tokio mit Blick auf die Stadt. Aber was stellen die Bilder dar? Möchte die Künstlerin uns Eindrücke der Außenwelt vorführen oder nicht vielmehr innere Bilder vermitteln, die gleichsam vor dem geistigen Auge erscheinen? Der Titel der Serie, auf deutsch „Blitzlichterinnerungen“, ist der Begriff, mit dem eine spezielle Form der Speicherung im Gedächtnis bezeichnet wird. Emotional bewegende Ereignisse, vor allem solche, die sich auch im kollektiven Gedächtnis stark verankern, etwa die Anschläge vom 11. September 2001, werden auch besonders intensiv erinnert. Die fotografische Metapher des Blitzlichts bezieht sich dabei auf Schnelligkeit, mit der viele gleichzeitige Eindrücke gespeichert werden und dauerhaft im Gedächtnis haften bleiben. Doch Zeit, Ort, Umstände und Personen werden nicht so exakt erinnert, wie es die Rede vom „fotografischen“ Gedächtnis nahelegen würde. Vor allem die mit dem Ereignis verbundenen starken Emotionen verbleiben im Gedächtnis. Die wissenschaftliche Forschung geht aber auch davon aus, dass die Blitzlichterinnerungen zumindest teilweise nachträgliche Rekonstruktionen sind und nicht auf dem damals tatsächlich Erlebten beruhen. Die der Serie der „Flashbulb Memories“ zugrunde liegenden Fotografien sind überbelichtet und aufgerastert. Mit der Weiterbearbeitung der Bilder, in der auch zum Teil zufallsbedingt zu Verschiebungen, Verschleifungen, Brechungen und Abstrahierungen des Motivs kommt, versucht die Künstlerin den Prozess nachzuvollziehen, mit dem Blitzlichterinnerungen durch ständige Wiederholung aufrechterhalten, überschrieben und vielleicht sogar neu erzeugt werden. Die Bearbeitung auf der medialen Ebene stellt also eine Analogie dazu her, was mit Bildern im Gedächtnis passiert. So sind es letztlich Bilder der Erinnerung an Bilder, des „wie“ und nicht des „was“ des Erinnerns. Die Motive, wie schemenhafte Stadtansichten, verweisen selbst nicht auf konkrete bewegende Ereignisse. DD Handon teilt uns nicht „ihre“ Blitzlichterinnerungen mit, sondern legt uns nahe, die Leer- und Fehlstellen der von ihr gemachten und bearbeiteten Bilder zu Projektionsflächen eigener Flashbulb Memories werden zu lassen.

Gibt es auch „genetische“ Bilderinnerungen? Diese Frage steht hinter dem „Achenbach Appropriation Project“. Kann DD Handons Vorliebe für Natur- und Landschaftsmotive damit zu tun haben, dass einer ihrer Urgroßväter ein erfolgreicher Landschaftsmaler war? Andreas Achenbach gehört neben seinem Bruder Oswald Achenbach zu den prominentesten Mitgliedern der Düsseldorfer Malerschule im 19. Jahrhundert. DD Handon nimmt ausgewählte seiner Bilder „unter die Lupe“, indem sie den Blick auf ausgewählte Details richtet und diese stark vergrößert. Die Pixelung ist deutlich erkennbar und die Motive sind meist kaum noch identifizierbar. Das liegt auch daran, dass die Ausschnitte nicht nur an den Originalgemälden fotografiert wurden, sondern zum Teil auch den im Internet zugänglichen Abbildungen entstammen, deren Auflösung nicht sehr hoch ist. Das Motiv sowie die physische Substanz von Ölfarbe und Leinwand scheinen sich gleichsam aufzulösen, was auch durch die Wahl der Motive unterstützt wird, denn es handelt sich um Bildpartien, in denen Wasser dargestellt ist. So verwandelt sich ein Landschaftsbild aus dem 19. Jahrhundert in eine abstrakte Struktur; ein Achenbach in einen Handon. Aber „wirkt“ der Achenbach vielleicht doch unterschwellig weiter, prägt unsere Wahrnehmung immer noch? Schließlich denken wir beim Anblick realer Landschaften immer wieder an die Landschaftsbilder, die wir im Kopf haben, sei es die der Düsseldorfer Malerschule, die der alten Niederländer des 17. Jahrhunderts oder die der Impressionisten, wobei letztere die Auflösung und „Pixelung“ des Motivs ja schon weit vor der Digitalisierung anvisierten. Letztlich hat DD Handons Achenbach-Projekt auch mit der grundsätzlichen Frage zu tun, inwieweit sich durch die Digitalisierung auch das – nicht nur kunsthistorische – Bildgedächtnis verändert. Auch bei der „Snow Viewing Series“ steigen Bilder aus dem kunsthistorischen Gedächtnis vor dem inneren Auge auf. Doch sind es hier keine klassischen Landschaftsgemälde, sondern eher Werke der informellen Abstraktion oder chinesische Tuschezeichnungen. Zugrunde liegen allerdings direkte – im wahrsten Sinne des Wortes – Eindrücke aus der Natur. Die sich in vielfältigen Variationen verteilenden Lineaturen sind Gräser und Zweige, die auf einer dichten Schneedecke liegen oder aus ihr herausragen. Die wie von der Natur gezeichnet wirkenden Konstellationen hat die Künstlerin während einer Wanderung fotografisch festgehalten. Wie fast immer ist das, was DD Handon uns zeigt, Resultat mehrerer Bearbeitungsstufen der Ausgangsbilder. Unverändert blieben jedoch die vorgefundenen Anordnungen auf der Schneedecke mit allen Unregelmäßigkeiten und Unterbrechungen. Doch die Fotos wurden aufgerastert, Kontraste und Farben verändert, Konturen verschliffen sowie der Kontrast zwischen dem hellen Schnee und den dunklen Zweige verstärkt, so dass sich alles physisch Greifbare aufzulösen scheint. Doch die Künstlerin konterkariert diese Entmaterialisierung, indem sie die stark vergrößerten Bilder auf einzelne Bögen Schnittmusterpapier ausdruckt und zusammensetzt. Dieses Papier, das nicht für die Verwendung in Druckern vorgesehen ist, wird dabei zwangsläufig ein Stückweit geknickt und geknittert, was auch deutlich hervortritt, wenn sie die Papiere auf einen Untergrund aufklebt oder -kleistert. Das Papier als Träger des Bildes bleibt also stets selbst sicht- und spürbar, was auch dazu beiträgt, dass die „Snow Viewings“ mehr an Tuschezeichnungen erinnern als an ihren fotografischen Ursprung. Wie auch bei den anderen Serien existiert jedes Resultat in dieser Form nur einmal. Aus dem vielfach reproduzierbaren Foto wird ein Unikat. So verschleift sich nicht nur das Motiv, sondern auch die mediale „Identität“ des Bildes, wenn es gleichsam „durch mehrere mediale Instanzen gejagt“ wurde, wie DD Handon es selbst formuliert.

Dieses Vorgehen vollzieht gleichsam physisch nach, wie sich die unzähligen in den Medien reproduzierten und um die Welt gejagten Bilder ständig einander überlagern. Bei den „Flashbulb Memories“ oder den „Snow Viewings“ geht diese Überlagerung mit einer starken Helligkeit einher, wie sie auch Paul Virilio als Resultat der medialen Bildüberflutung diagnostiziert, als „Überbelichtung des Sichtbaren im Zeitalter des bewegten Bildes, die, wie es scheint, die Unterbelichtung des Zeitalters der Schrift verdrängt.“1 In der „New World Series“ hingegen findet gleichsam eine Verdunkelung statt. Große Teile von Zeitungsbildern, die DD Handon zu Tableaus zusammengestellt hat, sind mit schwarzer Farbe übermalt und damit unsichtbar gemacht. Damit richtet sich der Blick auf einzelne Motive, die in formale Korrespondenzen treten und auch suggerieren, dass es Bruchstücke einer gemeinsamen Erzählung sind. Man könnte von Collagen sprechen, aber die Bilder selbst sind nicht zerschnitten, sondern das Collage- und Bruchstückhafte entsteht allein durch die Übermalungen. Hervorgehoben sind architektonische, aber vor allem Natur- und Landschaftselemente. Deren Konturen sind hier nicht, wie bei den anderen Serien, durch Nachbearbeitung verunklärt und verschliffen, aber durch ihre Isolation aus dem Kontext erscheinen die Motive ebenso ambivalent und rätselhaft.

Selbst mit optischen Mitteln arbeitend, erhebt DD Handon einen nachhaltigen Einspruch gegen den „Fetischismus des Optischen oder genauer des Elektro-Optischen“, wie ihn Virilio beobachtet: „Müssen wir unseren Blick abwenden, schüchtern aus dem Augenwinkel beobachten, indem wir die angebotene übermäßige Scharfeinstellung vermeiden? So viele Fragen, die nicht nur die Ästhetik betreffen, sondern gleichermaßen die Ethik der zeitgenössischen Wahrnehmung.“2 Vielleicht muss man, wie DD Handon, absichtlich Unschärfen, Zweideutigkeiten und Unklarheiten erzeugen, um überhaupt noch etwas zu erkennen. Die Präzision, die sich traditionell mit der klaren Definition und Konturierung des Dargestellten verbindet, hat sich auf ein anderes Terrain verlagert, nämlich auf die Genauigkeit der Wiedergabe physikalischer (Aggregat)zustände: „Als Aggregatzustände bezeichnet man qualitativ verschiedene, temperatur- und druckabhängige physikalische Zustände von Stoffen“ (Wikipedia). Dabei werden die Grundeigenschaften fest, flüssig und gasförmig unterschieden, wobei die ersten beiden Zustände auch als „kristallin“ und „amorph“ differenziert werden. Veränderungen des Aggregatzustandes entstehen unter anderem durch Schmelzen, Erstarren, Gefrieren, Verdampfen oder kondensieren.3 Wenn DD Handon die Bilder durch die medialen Instanzen jagt, stellt sie auch gleichsam immer wieder neue Aggregatzustände her. Dies betrifft auch die Zeitlichkeit der Bilderfahrung: Schnelle, blitzlichtartige Eindrücke werden „verlangsamt“, indem sie immer wieder aus anderen Perspektiven in Erscheinung treten, die auch immer wieder andere Bilder hervortreten lassen, die latent in jedem Bild enthalten sind und „hinter“ der Oberfläche auf ihre Entdeckung warten. Dieser ebenso auf die Differenzierung von Materialqualitäten und -suggestionen gerichtete Prozess fokussiert auch auf die Trägermaterialien, die in einer zunehmenden digitalisierten Bilderwelt immer mehr aus dem Blick geraten. Eine Bildbefragung bliebe aber unvollständig, wenn sie nicht auch die physische Substanz der Bilder im Auge behielte.

Ludwig Seyfarth